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glad to be mäd - Ein Antistigma-Festival für psychoseerfahrene Menschen

Artikel aus der Psychosozialen Umschau 04/2024


© Caroline Pitzke
© Caroline Pitzke

Seit einigen Jahren verbringe ich meine Sommerwochenenden in der brandenburgischen Provinz und entkomme so regelmäßig der Berliner Großstadthitze. Mein kleines Sommerhaus führt mich raus in die Natur, erdet mich und lässt mich zur Ruhe kommen. Es liegt in der ehemaligen Malerkolonie Ferch am pittoresken Schwielowsee in der Region Potsdam- Mittelmark. Inspiriert durch die Idee von Will Hall, der in Kalifornien im vergangenen Jahr zum ersten Mal ein Antistigma-Festival etabliert hat, habe ich mein erweitertes Umfeld, bestehend aus Kolleg:innen, Freund:innen und Familie, im vergangenen Jahr zum Zelten rund um meine Datsche geladen. So ist die Idee des mäd festivals entstanden.


Das mäd festival ist ein trialogisches Antistigma-Festival für psychoseserfahrene Menschen, Angehörige und sozialpsychiatrische Fachpersonen, das ich in diesem Jahr zum ersten Mal öffentlich veranstaltet habe. Ich selbst bin psychoseerfahrener Genesungsbegleiter und Autor des Buches »ICH ist manchmal ein anderer« über mein Leben mit Schizophrenie, das vor fünf Jahren im Goldmann Verlag erschienen ist. Noch zwanzig Jahre nach meiner Ersterkrankung frage ich mich, wieso dieses Phänomen Psychose eine solche Macht über mich hat und welche Rolle die Stigmatisierung in unserer Gesellschaft dabei spielt. Zeit also, ein groß angelegtes Festival zu organisieren, um Antworten auf diese und andere Fragen zu erhalten.


Es waren gut sechzig Personen, die zu Beginn des ersten Juliwochenendes am schönen Schwielowsee eintrudelten und von der Kunsthistorikerin und Stadtführerin Andrea Pätzold an der Havelländischen Malerkolonie begrüßt, durch das kleine Museum und die Fischerkirche sowie durch den Ort geleitet wurden.


Es folgten unzählige wertschätzende und inspirierende Begegnungen mit ebenso spannenden wie einzigartigen Menschen, die sich mit großer Offenheit und Verletzlichkeit ausgetauscht haben. Etwa die Hälfte der sechzig Personen hat auf dem Gelände meines Sommerhauses in Zelten übernachtet. Manche der Gäste hatten eine lange Anreise quer durch die Republik mit PKW oder Deutschlandticket auf sich genommen, um drei Tage lang meditativ auf den Schwielowsee zu blicken und die heilsame Kraft der Natur wirken zu lassen.



Beachparty und Workshops


Zur offiziellen Eröffnung des Festivals gab es zunächst eine Beachparty im Strandbad Ferch mit wunderbarem Seepanorama, Bio-Burgern vom Grill und einem mediterranen Willkommensbuffet. Eine gewisse Leichtigkeit bei schweren Themen herzustellen diente als Voraussetzung eines sicheren Rahmens und tragenden Gerüsts über drei Tage des Festival- Miteinanders, um mehr eine Feier des Lebens statt eines einseitigen Fokuss auf Leid und Krankheit zu schaffen.


Das unglaublich hochgewachsene Moderationstandem, bestehend aus der PR-Fachfrau in Gesundheitsthemen Claudia Dirks und der Berliner Dragqueen Jurassica Parka, spielte sich die Bälle zu und vermochte eine gute Mischung aus Empathie, Fachwissen, Leichtigkeit und Humor zu vermitteln.


Der Spotlight des Abends lag ganz auf den einzigartigen Teilnehmenden und ihren Projekten, die sie nach und nach vorstellten, unter anderem Chris vom Mad Artists Magazin, Aktivistin Hannah Ree, die Genesungsbegleiterinnen Wiebke und Heike vom Antistigma-Projekt LIBIAS am St. Hedwig Klinikum in Berlin; Florian und Angelika von den Recovery Colleges Osnabrück beziehungsweise Gütersloh sowie Tim vom Netzwerk Stimmenhören.


Zu den weiteren Aktivitäten zählten Workshops wie »The Mindsetter«, ein ressourcenorientiertes Serious Game zur Stärkung der eigenen Stärken, entwickelt von Ergotherapeutin Gesa Döringer von Listo Amsterdam, ein angeleitetes Waldbaden mit Yogalehrerin Nicole Herrmann und anschließende Impulse zum Kreativen Schreiben mit mir. Zudem gab es an jedem Morgen Yoga am See mit Psychologin, Yogalehrerin und Coach Maria Füllmann sowie die eindrückliche Stimmenhörinstallation der fünfzehnjährigen Lilli, die von ihr und dem Sounddesigner Thorsten Stier unentgeltlich für das Festival gestaltet wurde. Zum Abschluss führte die Genesungsbegleiterin Katrin Weiß zu einem besonderen Ort der Stille, dem Japanischen Bonsaigarten.



Podiumsdiskussion und trialogischer Austausch


Die Gäste der Podiumsdiskussion waren Bahtiyar Yilmaz, Initiator der trialogischen Plattform und des Impact-Startups mentalhub; Autorin und Erfahrungsexpertin Lea De Gregorio, die kürzlich im Suhrkamp Verlag ihr Buch „Unter Verrückten sagt man du“ veröffentlicht und eindrücklich auf die anhaltende Stigmatisierung innerhalb und außerhalb des Gesundheitssystems hingewiesen hat; Journalistin und Autorin Julia Friedrichs als Autorin der Runde mit ihrer starken Expertise in Fragen der Gerechtigkeit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft;


Tobias Reuter als Geschäftsführer des Instituts für Arbeitsfähigkeit und Experte für Inklusion und Beteiligung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen, der die komplexen Fragen des Betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsfähigkeitsmanagements einbrachte; Sowie Oberärztin Dr. Stefanie Schreiter von der Berliner Charité am Campus Mitte, die viele Beispiele aus ihrem Berufsalltag für gelungenen Stigmaabbau einbrachte und zeigte, welche Hürden weiterhin bestehen.


Mit dem weitläufigen Garten an der Kulturscheune, vielen emphatischen Menschen, dem Schwielowsee selbst sowie einem großen Ruhezelt mit Loungemöbeln ausgestattet auf dem Gelände des Sommerhauses konnten wir notwendige Ruheräume gewährleisten. Eine dreistündige Schlössertour über den Schwielowsee, das Caputher Gemünde und die Potsdamer Seenlandschaft half, die vielen Gespräche, Gedanken und Gesichter einzuordnen und das Erlebte zu reflektieren.



Resümee und Blick in die Zukunft


Besonders wichtig war mir ebenfalls der Austausch und die Vernetzung von Personen aus der freien Wirtschaft in Leitungsfunktionen, CEOs und Manager:innen sowie angehenden und etablierten Startups mit ihren innovativen Ideen. Mehr Fachpersonen bei einer Neuauflage einzubinden, um einen trialogischen Austausch zu gewährleisten, ist mir ein besonderes Anliegen. Ich freue mich so, dem so wichtigen Trialog mit seinen gut etablierten Strukturen eine Variante in Form dieses Festivals hinzufügen zu dürfen.


Das enorme Vertrauen aller Teilnehmender und der offene Austausch über drei Tage, haben viel in mir bewegt. Mehr Fachpersonen bei einer Neuauflage einzubinden, um einen trialogischen Austausch zu gewährleisten, ist mir ein besonderes Anliegen. Für eine Neuauflage im nächsten Jahr bin ich zudem an weiteren Kooperationspartner:innen interessiert und freue mich über Anregungen zur weiteren Finanzierung, um das Festival noch professioneller auszurichten und aus den gemachten Erfahrungen lernen zu können.


Ein großer Dank gilt den Sponsoren und Kooperationspartnern wie der KOPF, HAND + FUSS gGmbH für Inklusion, die unter anderem Buchhaltung und Steuerberatung gewährleistet hat. Weitere offizielle Kooperationspartner waren die digitale Therapiebegleitung Recovery Cat GmbH, bei der ich angestellt bin, und das erwähnte Institut für Arbeitsfähigkeit mit dem Projekt BEMpsy.


Der Blick auf individuelle Stärken und Kompetenzen war für mich persönlich sehr wohltuend, um das Phänomen Psychose als Bewältigungsstrategie zu betrachten, statt des üblichen degradierenden Blicks auf Krise und Krankheit, der Annahme und Akzeptanz oftmals erschwert. Sehr schön empfunden habe ich selbst die Teilnahme einer fünfköpfigen Familie, bestehend aus drei Generationen, die mir vermittelt haben, dass dieses Festival ihr Sommerurlaub ist.


Allein der stolze Blick der beiden Kinder in Richtung des psychoseerfahrenen Vaters während seiner Präsentation ist unbezahlbar. Hängengeblieben aus einem Workshop zur Reflexion des Festivals ist mir zudem dieser frei zitierte Gedanke: »Wir sind die Avantgarde der Krise und leisten mit unserem Erfahrungswissen einen Dienst an der in der Polykrise gefangenen Gesellschaft mit ihren Dystopien und produzieren Tag für Tag ganz selbstverständlich wertvolle Hoffnung und Zuversicht.«



Dieser Artikel wurde zuerst in der Psychosozialen Umschau 04/2024 veröffentlicht.



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